Ich war zum ersten Mal IRL beim International Journalism Festival in Perugia und es war noch besser, als ich es mir erhofft hatte! Zwar musste ich mich erst dran gewöhnen, vor jedem Talk mindestens 30 Minuten anstehen zu müssen – Eintritt oder Badges gibts keine, jede_r kann an den Sessions des Festivals teilnehmen – aber dafür bin ich in den Wartezeiten auch mit sehr vielen spannenden Menschen ins Gespräch gekommen.
Die meisten Talks, die ich angeschaut habe, habe ich in Sketchnotes festgehalten, hier folgen meine Zusammenfassungen dazu, es gibt allerdings auch Videoaufzeichungen auf YouTube (sie sind jeweils beim Titel verlinkt).
Investigating stories hiding in plain sight
Bei „Investigating stories hiding in plain sight“, moderiert von Marianne Bouchart wurden drei Gewinnerprojekte des Sigma Awards für Datenjournalismus vorgestellt.
Peter Andringa von der Financial Times hat das Projekt „How China is tearing down Islam“ vorgestellt, in dem ein großes Team via Google Maps und vielen Tabellen architektonische Veränderungen an Moscheen in China getrackt hat. 2300 waren im arabisch-islamischen Stil, 75% davon wurden „chinesisch“ renoviert und gleichzeitig Beschränkungen der Religionsaisübung eingeführt (keine Kinder erlaubt, Öffnungszeiten beschränkt).
Jesse Coburn vom Streetsblog NYC hat temporären Nummerntafeln, „Ghost Tags“ – ein großes Betrugsgeschäft in New Jersey – hinterherrecherchiert. Ohne besondere Tools, einfach nur durch Beobachtung und viel Neugierde.
Die „Suspicion Machines“ von Gabriel Geiger von Lighthouse Reports beschäftigen sich mit Machine Learning in Sozialsystemen. Er hat das Beispiel der Stadt Rotterdam vorgestellt, wo Empfänger_innen staatlicher Unterstützung anhand 315 Attributen (u.a. Beziehungsstatus!) einen „risk score“ zugeteilt bekommen. Turns out: im System ist starker bias drin, archetypisch wird z.B. eine junge alleinerziehende Mutter oder ein kürzlich immigrierter, noch niederländisch lernender Mann eher geflaggt. Das ließ mich gleich an den österreichischen „AMS-Algorithmus“ denken, der ja Frauen mit Betreuungspflichten auch klar diskriminiert hatte…
Main takeaway der Session (ich glaube, es war Jesse Coburn der das gesagt hat – ich sah leider nicht zur Bühne): „data journalism is not only for tech reporters“!
AI and Journalism. What does it take to get it right?
Zu echter Diskussion kommt es bei Panels selten. Bei „AI and Journalism. What does it take to get it right?“ ist es doch passiert, denn Anya Shiffrin (Columbia University) und Charlie Beckett (Polis London School of Economics) waren sich öfters gar nicht einig.
Zu Beginn hat Arthur Grimonpont erklärt, dass für Reporters Without Borders (RSF) Pressefreiheit immer auch mit dem Recht auf zuverlässige Information einhergeht. Und die ist unter Beschuss, sowohl von seiten autoritärer Regime, als auch von Konzernen, die (jedenfalls indirekt) von Disinformation profitieren. Konsequenterweise ergeben sich daraus drei Kernprinzipien zum Umgang mit AI:
1. Fakten müssen von Fiktion zu unterscheiden sein:
Wichtig dabei ist, AI-Einsatz transparent zu machen und unabhängig feststellen zu können. Außerdem braucht es AI-Literacy in allen Redaktionen.
2. Die (wirtschaftliche) Existenz des Journalismus muss gesichert sein:
Verlagshäuser sollten gemeinsam um faire Vergütung verhandeln und sich nicht auf schwindlige Deals mit AI-Konzernen einlassen.
3. Zugang zu einer gemeinsamen Realität:
Vollständige Personalisierung ist bestenfalls fad, schlimmstenfalls spaltend für die Gesellschaft.
How does modern propaganda work? A warning from Hungary
Andras Petho vom regierungskritischen Medium Direkt36 hat eine Warnung aus Ungarn ausgesprochen: „How does modern propaganda work?“. Das ist Orbans Playbook:
- Ein neues Mediengesetz erlassen, das den Interessen der Regierungspartei nutzt und kritischen Journalist:innen einfach nicht antworten.
- Private/ÖRR Fernsehsender, Lokalzeitungen, Radiosender und Social Media-Kanäle kontrollieren und z.B. mit anti-muslimischem, pro-russischem und Verschwörungscontent fluten.
- Die staatliche Nachrichtenagentur erst kostenlos machen, und dann als Regierungspartei die inhaltliche Kontrolle übernehmen und quasi Headlines für alle news outlets im Land schreiben.
- Kritische Stimmen mit Unwahrheiten und verzerrter Darstellung diskreditieren.
Art and journalism. Why fiction may be the missing component to telling the truth
„Why fiction may be the missing component to telling the truth“ ist finde ich schon ein gewagter Titel auf einem journalistischen Event. Moderiert von Anna Górnicka von Outriders (die journalistische comics veröffentlichen und einen IRL Ausstellungsraum betreiben) stellten drei Leute zwischen Kunst und Journalismus ihre Projekte vor.
Florence Martin-Kessler vom LIVE Magazine bringt in Frankreich Journalist:innen unter dem Motto „a reported story well told“ auf große Bühnen, eine Rockband ist auch dabei.
Adam Kuzycz Berzowski ist Schauspieler, der sich für die Meinungsfreiheit in Polen einsetzt. Er spielt in Stücken über LGBTIQ-Themen (wo Paare vor Publikum „heiraten“ können) und über die Krise im Kinderpsychatriesystem.
Und Serhii Kolesnikov macht das Inker Magazine, dass sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hauptsächlich mit dem Krieg beschäftigt. Mit dokumentarischer Präzision und künstlerischer Wahrnehmung will das illustrierte Magazin Leute erreichen, die Nachrichtenmedien meiden.
Social media is dead. Long live the social web
„Social media is dead. Long live the social web“ hat Mark Little ausgerufen. Auf die Einstiegsfrage, wer in den vergangenen Monaten Twitter verlassen habe, hoben gefühlt ¾ der Anwesenden die Hand (inkl. mir). Leider fand ich das Panel am Ende unschlüssig, mir scheint nämlich social media (noch) nicht tot und das social web (noch) nicht (wieder?) richtig lebendig?
Zoe Schiffer von Platformer hat von der Verlagerung von Twitter zu Substack zu ghost erzählt, und klar gemacht, wie wichtig es ist, das Publikum über Plattformgrenzen hinweg mitnehmen zu können (Protocols not platforms!). Ihre Zuversicht, dass die Leser_innen schon irgendwann für hochwertige journalistische Produkte zahlen werden, teile ich leider nicht.
Joanna Geary, früher Senior Director of Curation bei Twitter, noch davor beim Guardian als communities editor, betonte, wie wichtig es ist, nicht nochmal dieselben Fehler zu machen: keine neuen Echokammern schaffen zum Beispiel. Und Johanna Rüdiger ist mit ihrem news-tiktok-Account das Aushängeschild der Deutsche Welle, sie sieht social media, v.a. Tiktok und Insta bei der Gen Z überhaupt gar nicht tot.
The rise of AI: journalism after platforms
Wie weiter als journalistische Organisation in einer plattformisierten, von big tech dominierten Online-Landschaft? Darum gings in „The rise of AI: journalism of platforms“, das für mich persönlich eine der wertvollsten Sessions des ganzen Festivals war.
Moderatorin Gabby Miller (Tech Policy Press) sprach von einer neuen Ära intransparenter Deals, auf der Tech Seite sind nun nicht mehr vorrangig Google und Meta, sondern OpenAI etc, die nach dem Motto „teile und herrsche“ mit wenigen Medienhäusern verhandeln. Anya Shiffrin (Columbia University) beobachtete ebenfalls ein Vorgehen der AI-Konzerne nach dem etablierten Playbook, sie forderte angemessene Vergütung bzw. Gewinnbeteiligung der Medienhäuser an Suchmaschinen usw.
Emily Bell unterstrich den fundamentalen Unterschied zwischen den Social Media Plattformen der Vergangenheit – die „nur“ die Distribution übernahmen – und AI-Technologien heute – die die Inhalte reglerecht „schlucken“. Sie sieht Anti-Trust-Regulation als einziges, aber inadäquates rechtliches Werkzeug, um in den USA die negativen Folgen dieser Entwicklungen einzudämmen. Die Beobachtung, dass es im Endeffekt nur zwei Arten von Redaktionen gibt (Google oder Microsoft) hat mich schockiert (aber ich konnte sie gleich in anekdotischer Evidenz für mein journalistisches Umfeld bestätigen).
Und Charis Papaevangelou, der sich mit content governance und Infrastrukturen auseinandersezt, forderte, news nicht als bloße Ware zu behandeln, und die Möglichkeit, als Forschender Einsicht in algorithmische Systeme zu bekommen. Seine Forschung scheint sich in einem ganz ähnlichen Interesse wie meine MA-Arbeit (über die Plattformisierung des Podcasting -Ökosystems) zu bewegen, ich will unbedingt seine Dissertation nachlesen, sobald sie veröffentlicht ist.
X and journalists: Should I stay or should I go?
„Should I stay or should I go?“. Diese Frage habe ich für mich im Kontext von X aka Twitter schon lange beantwortet – ich poste nix mehr, lurke alle paar Wochen mal und bin halt jetzt stattdessen gelegentlich auf LinkedIn unterwegs…
Beim gleichnamigen Panel fielen die Antworten unterschiedlich aus, auch wenn sich alle einig waren, dass Twitter ein außergewöhnlicher Teil der journalistischen Landschaft war (einer, den ich zB ganz unironisch geliebt habe, vor einigen Jahren).
Moderator Phil Chetwynd von der AFP deutete eine mögliche moralische Verpflichtung an, die Plattform spätestens jetzt zu verlassen. Denn wie Zoe Schiffer anmerkte, verwechselt Elon Musk notwendige content moderation mit dem ~woke mind virus~ und hat mit den käuflichen Verifizierungshaken sehenden Auges eine Mis/Disinformationskrise auf X ausgelöst. Zoe Schiffer hatte Twitter zwar früher als „assignment editor“ genutzt, dann schlagartig mit Musks Übernahme aber aufgehört zu posten.
Aaron Rupar setzte dem seine Freelance-Position entgegen. Er wurde schon von X geblockt, kann/will es sich aus Gründen der Wirtschaftlichkeit seines eigenen kleinen Medienunternehmens jedoch nicht leisten, die Plattform selber zu verlassen. Genauso Marianna Spring, disinfo-Korrespondentin der BBC, die wegen ihres Jobs ihre Augen auf das X-Geschehen haben muss, trotz des Hasses, der sie und viele andere dort trifft. (Übrigens, bei den RadiodaysEurope im März habe ich auch zwei sessions mit Marianna Spring in Sketchnotes festgehalten).
Young women’s magazines: a radical transformation
Es war vermutlich im Jahr 2009, als ich die TeenVogue abonniert habe, weil sie mir als damals vierzehnjährige mondäner, spannender, besser vorkam als ihre deutschsprachigen Pendants Bravo oder Mädchen. Ich erinnere mich noch genau an das Cover mit Mia Wasikowska zu Alice im Wunderland – das Editorial ist noch immer online und eröffnet mit „Working with Johnny Depp was great—I was a little starstruck.“. 2024 würde diese Aussage wohl kaum ohne Einordnung in der TeenVogue veröffentlicht – kaum ein Medium hat einen so radikalen (positiven!) Imagewandel hingelegt wie diese vermeintlich seichte Lifestylezeitschrift für junge Frauen, die nun Investigativrecherchen veröffentlicht und sehr politisch geworden ist. Deshalb wollte ich beim Journalism Festival unbedingt zum Panel „Young women’s magazines: a radical transformation“, und bekam glücklicherweise einen der letzen drei Plätze.
Moderiert von Emma Löfgren erzählten drei Journalistinnen von ihren Erfahrungen in den Redaktionen von „Mädchen-Magazinen“. Versha Sharma, TeenVogue-Chefredakteurin, beschrieb ihre Blattlinie seit 2016 als „unapologetically political“, ihr Redaktionsteam als sehr divers und vor allem sehr jung, das heißt nah an der Zielgruppe.
Jessie Lau von NüVoices sieht die community, die sie IRL um das Magazin zusammenbringt, als essentiell für den Erfolg, praktischerweise ist die Finanzierung durch individuelle Mäzene geischert.
Und Suyin Haynes war im Team des britischen Magazins gal-dem, das als Hobby/Freiwilligenprojekt startete, kurz ein business war, und dann aber leider aus finanziellen Gründen schließen musste. Sie betonte, dass es für marginalisierte Stimmen nicht nur Einstiegs-Gelegenheiten in den Journalismus braucht, sondern auch mid-career-Chancen, weil sich sonst die gläserne Decke viel zu schwer durchbrechen lässt.
Here be neurons: how to tame neural networks in AI models
In die Session „Here be neurons: how to tame neural networks in AI models“ bin ich mittendrin hineingestolpert und habe deshalb nicht mitgekritzelt, stattdessen hab ich ein paar Gedanken mitgetippt. Uli Koppen vonm automation lab des BR beschrieb Metadaten als Brückentechnologie, die gerade SEHR wichtig ist, aber durch AI-Systeme früher oder später völlig obsolet werden würde. Sie sprach sich außerdem dafür aus, die legacy-Infrastrukturen der Medienunternehmen anzugehen und zu erneuern, weil alles andere ein mit-der-Zeit-gehen verhindere.
Maren Urner (HMKW University of Applied Sciences Köln) merkte in dem Kontext an, dass Medienunternehmen (besonders in Bezug auf AI) nicht kurzfristigen Profiten hinterherrennen sollten und selbstbestimmt mit den Technologien umgehen sollen, denn „AI has not fallen from the sky“.
tl;dr: Das ijf in Perugia ist eine super Veranstaltung, ich will gerne wieder hin!