Von 9. bis 11. September fanden die Tutzinger Radiotage in der Akademie für Politische Bildung statt, direkt am Starnberger See. Mehr als fünfzig Radio-/Audio-Macher_innen aus dem deutschsprachigen Raum trafen sich unter Leitung von Kinza Khan, um das Leitthema „Zwischen Fakten und Emotionen: Journalismus in angespannten Zeiten“ zu diskutieren.

Was funkt die vierte Gewalt?

Was funkt die vierte Gewalt?

„Was funkt die vierte Gewalt?“ war die Ausgangsfrage der Keynote. Timo Fratz hat im Jahresrückblick das Bild einer Gesellschaft in Aufruhr gezeichnet – vom 7. Oktober, über Bauernproteste, das quasi alles übertönende Thema Migration bis zu anstehenden Wahlen mit erwartbarem Rechtsruck. Birte Förster von der Uni Bielefeld hat darauf mit geschichtswissenschaftlicher Perspektive geantwortet.

Wenn Rechtsextremismus hör- und sagbar wird, Angst und Ausgrenzung vorherrschen, über „ethnische“ Staatszugehörigkeit diskutiert wird und politische Akteure keine positiven Zukunftsvisionen anbieten, dann nutzen Fakten nichts (mehr). Die vierte Gewalt durchzieht dadurch (und auch durch digitale Medien) ein Wandel, und umso klarer spricht die Historikern sich für einen Journalismus aus, der die wehrhafte Demokratie stärkt. Zum Beispiel dadurch, rechtsextreme Parteien im Programminhalt nicht gleichberechtigt zu behandeln (im Publikum regte sich da Widerstand, der Rundfunk-Staatsvertrag verbietet das offenbar) oder mehr zu paraphrasieren, anstatt menschenfeindliche O-Töne zu spielen.

Zwischen Nähe und Distanz: Herausforderungen von Reportern und Reporterinnen im Regionalen

Zwischen Nähe und Distanz: Herausforderungen von Reporter:innen im Regionalen

Angst ist eine immer größer werdende Herausforderungn von Reporter:innen im Regionalen (WTF?).
Beim ersten Panel der Tagung erzählte Christina Metallinos von ihrer Tagesschau-Liveschalte bei einer Mittelstandsdemo Anfang des Jahres, wo sie von den Protestierenden hinter ihr mit „Lügenpresse“ niedergebrüllt wurde. Dass der Angriff nicht gegen sie persönlich, sondern gegen sie als ARD-Vertreterin gedacht war, hilft ihr (verständlicherweise!) nicht, sich in solchen Situationen sicher zu fühlen.

Gerhard Koeniger von der Schwäbischen Post berichtet seit 2019 schon über Bauernproteste und beobachtet die Radikalisierung der Szene. Er habe sich seinen Respekt erarbeitet, aber meidet in so manchem persönlichem Gespräch bestimmte konfrontative Themen. Sorglos ist er nicht mehr.

Tim Vorspel von Radio Bielefeld ist oft mit Mikro bei (rechten) Demos unterwegs. Er hadert mit der Frage, was wie auf Social Media aufbereitet werden kann, um nicht rechten Interessen in die Hände zu spielen. Und sein Chef Timo Fratz hat schon vom Staatsschutz geraten bekommen, manchmal den Hintereingang zu nehmen, um nicht so leicht attackierbar zu sein. Seine Radio-Bielefeld-Erkennungszeichen trägt er nicht mehr. Ein düsteres Bild für die Pressefreiheit.

Brückenbauer nach dem Brandsma’schen Modell

Polarisierung ist erstmal nicht richtig oder falsch! Das hat WDR 1Live-Audio-Leiter Dennis Horn mit Verweis auf den niederländischen Polarisierungsexperten Bart Brandsma klargestellt. Polarisierung sei zuallererst ein (beeinflussbares!) Gedankenkonstrukt und müsse immer befeuert werden, um sich nicht heimlich aufzulösen. Im schlimmsten Fall wandern immer mehr Menschen aus der „stillen Mitte“ in Richtung Extreme, sodass keinerlei Brückenbauen mehr hilft.

Damit das nicht passiert, brauche es mehr Journalismus auf Augenhöhe, und der scheint Meinungsumfragen zu Folge nicht gegeben, wie Till Opitz gezeigt hat. So ist ein relevanter Teil der Befragten der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen der Überzeugung, dass die meisten Journalisten ganz anders über Politik denken als sie selbst, und in einer ganz anderen Welt leben als sie selbst. Interessanterweise ist die Polarisierung bei Menschen mit besonders geringer und besonders hoher Bildung am höchsten, und auch in Großstädten ausgeprägter als am Land (so eine MIDEM Studie).

KI im Journalismus: Der Versuch einer Einordnung

„Don’t believe the Hype“, so könnte man Johannes Klingebiels (Media Lab Bayern) KI-Talk zusammenfassen.

Erstens gibt es nämlich nicht mal eine (singuläre) künstliche Intelligenz, sondern sehr viele unterschiedliche Systeme mit sehr unterschiedlichen Anwendungsgebieten. Zweitens hat KI schon eine lange Geschichte, der Begriff entstand in einem Streit zweier Wissenschaftsfraktionen in den 1950er Jahren. Seither wechseln sich KI-Winter und -Sommer ab, letztere haben uns so unterschiedliche „Erfindungen“ wie Clippy, Alexa, oder zuletzt ChatGPT gebracht. Drittens: „it’s not a technology, it’s a brand“ – das meiste basiert auf Spekulation und ist Marketing-bla derer, die Geld damit machen (wollen). Überhaupt schwebt eine große Minsinformations-Wolke um das Thema, denn Demos versprechen oft viel mehr als das tatsächliche Produkt liefern kann, kaum wer (auch nicht Tech-Journos!) schaut wirklich kritisch hin. Und viertens: die wirtschaftliche Basis von AI ist ziemlich wacklig, es gibt noch kein gescheites Geschäftsmodell.

Johannes Prognose für KI im Journalismus: es wird viel mehr unspektakuläre Anwendungen geben. Whisper, das lokal am MacBook Audio transkribiert, oder ein kleines Tool, das per Rechtsklick alle Anmerkungen aus einem PDF exportiert.

Wirklich erfrischend, auch in diesem Kontext mal eine hypekritische Perspektive zum Thema zu hören!

Ein Tag mit KI-Praktikant

Den Dienstag habe ich mit KI-Praktikant und Gregor Schmalzried verbracht, im gleichnamigen, super Workshop. Vorher dachte ich mir – ach, für mehr als Audiotranskription, die gelegentliche Übersetzung und vielleicht noch Zusammenfassung habe ich in meinem Alltag keinen richtigen Use Case (ich lese und schreibe wahnsinnig gerne – sehe deshalb nicht ganz ein, warum ich das wegrationalisieren sollte). Aber jetzt hab ich in Mistral ein ganz brauchbares Darija-Wörterbuch gefunden (der arabische Dialekt hat logischerweise kein offizielles) und bastle mir an einem ChatGPT-Bot, der mir das Link-Formatieren in meinen Sonntags-Lieblingslinks-Blogposts erleichtert. Strickmuster generieren klappt btw gar nicht, mit keiner der Anwendungen.

Außerdem habe ich eine sehr nette Metapher mitgenommen, von „KI“ als „Fleischwolf“, der das ganze Internet zu Antworten dreht. Was im journalistischen Kontext vor allem stehen bleibt: was zeichnet uns *menschliche* Journalist:innen aus, worauf sollten wir uns in Zeiten veränderter Mediennutzung, in der Menge an automatisch generiertem Content konzentrieren, um nicht unterzugehen und tatsächlichen Mehrwert zu bieten?

Hör mal! So gut!

Gemeinsam Audiostücke hören und dann drüber diskutieren macht mir große Freude, zu diesem optionalen Programmpunkt ging ich deshalb ohne Zögern. Sandra Müller (SWR) hat aus unseren Einsendungen drei Beispiele ausgewählt, von denen wir jeweils ein paar Minuten anhörten.

Vor allem die ersten beiden Beispiele wurden sehr kontrovers diskutiert: Wie holt man offensichtlich rechtsextreme Jugendliche zurück in die demokratische Gesellschaft? Warum geht wieder ein westdeutscher Reporter auf Spurensuche im Osten? Wie viel Klassismus, Folklore und Voyeurismus steckt im Porträt der Neu-AfD-Wählerin in Plauen?

Der Interview-Beitrag mit einer Suizid-Hinterbliebenen erhielt fast durchgehend Lob: so etwas in dieser Länge im Privatradio, in den Veranstaltungstipps, zu thematisieren ist nicht üblich, und hat in diesem Fall sehr gut funktioniert.

Danach ging die Zeit aus, in die Kurz-Empfehlungsrunde ohne Hörbeispiel habe ich dann noch Expectant geworfen. Im Dezember hatte ich dazu folgendes in mein Blog geschrieben:

Expectant ist climate fiction mit reellen Elementen aus Kanada, persönlich und poetisch und ganz unabhängig davon, wie man zur Frage des Kinderkriegens steht, aus einer existentiellen Menschheitsperspektive sehr relevant. Die Serie hat einen tollen original score, das einzige, was mich ein bisschen gestört hat, waren die häufigen theatralischen Seufzer.

Zuckersüß 461 auf zuckerbaeckerei.com

In meinen Einreichungen für diese Session war außerdem I Will Survive – Der Kampf gegen die AIDS-Krise, denn:

Dieser siebenteilige Podcast wird sicherlich unter meinen Favoriten 2024 bleiben. Das Team um Host Phillip Syvarth hat in sehr langer Recherche echtes O-Ton-Gold von Zeitzeugen zusammengesammelt, schonungslos, schlimm, berührend, und oft genug sehr bairisch. Obwohl mich der Inhalt sehr fertig gemacht hat – die tragischen Todesfälle, die lange Suche nach einer Therapie, der unerträglich homophobe 80er-Jahre-Peter-Gauweiler, die trotz allem hoffnungsvollen Aktivist_innen – konnte ich nicht aufhören, weiterzuhören. Die Zeiten, in denen eine HIV-Infektion ein sicheres Todesurteil war, sind mir als jungem Millennial weit weg. Ich glaube, der Podcast ging mir auch deshalb so nah, weil er Leuten aus der queeren Szene der 1980er im noch heute stockkonservativen Bayern eine Stimme gibt – Leute, die „gespeibt“ sagen, „Rüscherl“ (Asbach-Cola) trinken, und sich nicht haben unterkriegen lassen. Statt an Horst Seehofer und seine diskriminierende AIDS-Politik als CSU-Bundestagsabgeordneter denke ich beim Thema bayerische AIDS-Geschichte nun an diese mutigen Menschen. Und nebenbei noch bemerkt: Das Podcast-Cover (offenbar angepasst an die Slideshow in der ARD Audiothek) ist großartig!

Ich bin schon gespannt auf die vollständige Liste aller Hörbeispiele, ich will mich unbedingt durchhören.

Workshop-Ergebnisse

Workshop-Ergebnisse

Der letzte Vormittag der Tagung war für die Workshop-Ergebnisse reserviert.

Die Gruppe rund um Dennis Horn hatte am Beispiel Veganismus über das Brandsma’sche Modell in der Praxis diskutiert, mit den zwei auseinanderdriftenden Polen „radikale Veganer:innen“ und „radikale Fleischesser:innen“. Damit die stille Mitte nicht eines der Extreme joined, sollten brückenbauende Journalist:innen nicht nur eben jene Extreme abbilden, Aufreger-Themen ggf. auch erstmal liegen lassen und Seitenaspekte beleuchten. Am wichtigsten: Die Augenhöhe.

Die zweite Gruppe rund um Mario Köhne hat live einen Rechtsextremismus-Experten interviewt und dabei gegen allerlei Entgleisungsstrategien ankommen müssen. Ihr Fazit: Besser nicht Live senden, und schon im Vorhinein genau klären, wofür das Material dann verwendet wird. Wichtig: Nachhaken, Unterbrechen und die Gesprächsführung nicht aus der Hand geben. Als Moderator:in sollte man jede menschenfeindliche Aussage, jeden Widerspruch benennen, um den/die Populist:in zu entlarven. Körpersprache und Äußerlichkeiten (z.B. Neonazi-Symbole auf der Kleidung) können viel verraten und sollten nicht unkommentiert bleiben. Um sich selbst zu schützen, sollte man als Moderator:in möglichst wenig über sich preisgeben, um keine unnötige Angriffsfläche zu bieten. tl;dr: Vorbereitung ist alles.

Über den Tag mit dem KI-Praktikanten habe ich schon geschrieben, weil ich selbst am Workshop teilgenommen habe. Unsere Präsentation enthielt dann einerseits mein ganz-und-gar-menschliches Sketchnote, und den Versuch von claude.ai, ein Sketchnote zu generieren. Sagen wir so: in diesem Job werde ich wohl noch nicht so bald ersetzt/wegautomatisiert:

das ist nur ein Ausschnitt des KI-Sketchnotes, leider hab ich kein Foto vom ganzen

Was aber super funktioniert hat und für viel Gelächter gesorgt hat: drei neue Strophen von Hey, Jude, aus der gesprochenen Zusammenfassung des Workshops, transkribiert und in Lyrics verwandelt von ChatGPT und dann vertont von udio. Urheberrechtlich natürlich höchst problematisch, aber SEHR lustig!

Hörbare Diversität: allen eine Stimme geben

Hörbare Diversität: Allen eine Stimme geben

Bremen Next ist der Versuch, Allen eine Stimme zu geben und die sehr diverse junge Bevölkerung der Stadt angemessen zu repräsentieren. Felicia Reinstädt, vormals bei BR Puls, hat die Welle mit ihrer ganz anderen Redaktionskultur aufgebaut. Um wirklich Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien auf Sendung zu bringen, braucht es neue Recruiting-Ideen (Bewerbung per WhatsApp), sehr viel „an der Hand nehmen“ im Buddysystem, und neben klassischen Airchecks auch wöchentliches Feedback. Das mit dem neue-Zielgruppen-erreichen habe dafür aber ziemlich gut funktioniert (die meisten Hörer:innen kommen aus dem Umland Bremens), und die UKW-Frequenz war dafür sehr wichtig. Besonders woke sei die Redaktion nicht, eher aware, denn viele der neuen Radiomacher:innen seien im Alltag mit Gewalt und Diskriminierung konfrontiert.

Oberbayern, wie auf einer Postkarte

Nach diesem Talk musste ich leider abreisen, um am Abend pünktlich beim 31. Podcast Meetup in Wien (das ich organisiere) zu sein – aber ich will 2025 dringend wieder teilnehmen!

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